The Seer and the Seen
Heilige Madonna oder provokative Hure – für lange Zeit die vorherrschenden Weiblichkeitsbilder, die in der Kunst vorkamen. Auch die amerikanische Künstlerin Trulee Hall hat sie in ihrer Videoarbeit Two Tongues Duel the Corn Whores, An Opera aufgegriffen, die im Rahmen dieser Ausstellung zu sehen ist.
Die Oper – mit einem Beatboxer als Erzählstimme – erzählt vom spannungsgeladenen Duell der zwei aufeinandertreffenden Weiblichkeitsbilder, der Madonna und der Hure. Der Kampf spielt sich in Masturbation, Striptease, häuslichem Martyrium und einem Ritual der makellosen Empfängnis ab. Im monologischen Sprechgesang des Erzählers fällt der Ausspruch The Seer and the Seen, titelgebend für die aktuelle Ausstellung.
Denn nicht nur die Darstellung von Geschlecht und Sexualität beschäftigt Hall, es geht ihr auch um die Beziehung von Subjekt und Objekt, von Sehendem und Gesehenem. Wer sind die Betrachtenden, wer die Betrachteten? Ist das Sehen eine ästhetisches oder ein moralisches Urteil – oder gar ein voyeuristischer Akt?
Hall arbeitet multimedial, ihre Skulpturen, Malereien und Videos setzt sie häufig in Räumen in Szene, die an Theaterkulissen erinnern. In ihren Videoarbeiten treffen Liveaufnahmen, Computer-Animationen und Stop-Motion-Filme, die mithilfe von Knetfiguren entstehen, aufeinander. So lässt sie die Grenzen des Realen zum Fiktiven verschwimmen.
Die Werke der 45-jährigen Künsterlin wurden bereits auf der Kunstmesse FRIEZE in Los Angeles ausgestellt. Die Zabludowicz Collection in London widmete ihr 2020 eine Einzelausstellung, in deren Rahmen sie gemeinsam mit ihr die Oper produzierte. Nun zeigt die Villa Schöningen ihre Werke erstmalig in Deutschland.
Die Figuren in Halls Werken emanzipieren sich von ihrer Rolle als Objekt, das nur existiert, um gesehen zu werden. Dies wird im Kontext der alten Meister umso deutlicher, mit denen Halls Arbeiten in der aktuellen Ausstellung kontrastiert werden. Während in Albrecht Dürers Sündenfall der Apfelbiss ins Verderben führt, hält Trulee Halls Interpretation der Eva schon den zweiten Apfel zum genussvollen Verzehr bereit.
Ihre Figuren erheben sich über den ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Blick, ihre Werke bieten neue Interpretationsmuster für das Gesehene, für die Gesehenen. In ihren Bildwelten ist die Beziehung zwischen Seer und Seen keine gewaltsame, sondern entfaltet ein emanzipierendes Potenzial.